Vollmond

Es ist Nacht. Vollmond zwar, doch der lugt nur bisweilen zwischen den Wolken durch. Da sind Sie froh, dass Fackeln Ihnen den Weg über den Rasen weisen zu dem gedrungenen Gebäude, an dessen Rückseite Sie über ein paar Stufen ins Innere gelangen, einen klammen Raum, von dem eine steile Treppe hinabführt in ein riesiges Gewölbe. Mit seinen Betonstützen erinnert es an eine Kathedrale in einem expressionistischen Stummfilm. Doch dieses Gewölbe ist alles andere als stumm: Noch das kleinste Geräusch hallt mehrere Sekunden lang, das blosse Quietschen einer Bank auf dem Betonboden wird zum Klangereignis. So wagt keiner von uns, zu husten oder sich gar zu schneuzen, denn wir sind gekommen, jene Musiker zu hören, die diesen einzigartigen Hallraum heute Abend erforschen, ausloten wollen. 

Der vorne rechts, dessen Maultrommel gerade klingt, als platschten
Wassertropfen zu Boden, heisst Jürg Grau.

Er hat diesen Raum, einen Wasserspeicher aus dem Jahr 1922, der seit bald dreissig Jahren leer steht, entdeckt. Der Mann links, der die “whirlies” genannten Schläuche sausen, lässt, ist Philipp Zehnder. Und dieses ferne, dumpfe Schwirren, stammt das von einem didgeridoo, einem ausgehöhlten Baumstamm? Nein, es ist eine Bassklarinette ohne Mundstück, und der sie bläst ist kein australischer Ureinwohner, sondern ein Schweizer mit Namen Peter A. Schmid.

Fast 2000 Kubikmeter Wasser hat dieser Raum einst geborgen. Jetzt breiten Töne sich darin aus wie Ringe auf der Oberfläche eines Teichs, überlagern, durchdringen einander. Gross ist die Gefahr, dass alles zerläuft, die Konturen verliert, wie wenn ein Pianist seine Schwächen mit zuviel Pedal zu verbergen sucht. Doch keine Angst. Wir haben es mit Improvisatoren zu tun, die ihre Erfahrungen analysiert und verdichtet haben. Nie verlieren diese Navigatoren die Orientierung, sie sind ganz in ihrem Element. Wie ein Wal singt die Posaune, die Flöte schwebt, die Trompete schickt Signale aus, und darunter wummert drängend der Weinkisten-Stehbass. 

Ur-Ambient ist das, berauschend, halluzinogen. Wir legen uns hin, wir
schliessen die Augen. Wir tauchen ab.

VOLLMOND:  profound sounds in an empty reservoir

Peter A. Schmid alto flute, alto saxophone, bass clarinet

with Jürg Grau (trumpet), Philipp Zehnder (percussion), Matthias Ziegler (flute) a.o.

Creative Works Records CW 1033, 2000